Ehrenamt als Lebensaufgabe - Arikel aus dem Senioren ECHO vom 16. Mai 2018

Margarete Keiser muss beim Hospizdienst vor allem zuhören können

Ehrenamt als Lebensaufgabe - Artikel aus dem Senioren-ECHO vom 16. Mai 2018

Foto: A. Wiese

Elze (awi). Wenn Margarete Keiser selbst einmal abschalten möchte, geht die 75-Jährige mit ihrem Mann Dieter segeln. Die „Hummel“ liegt im Sommer beim Yacht Club Niedersachsen am Steinhuder Meer. Doch die Zeit dafür muss sie sich mühsam freischaufeln, denn fast immer ist sie für andere da, das ist seit vielen Jahrzehnten Lebensaufgabe und Berufung und von der Gemeinde Anfang April mit der Ehrennadel gewürdigt worden. 

Was bewegt jemanden, sich so intensiv für andere zu engagieren, in den letzten Jahren vor allem für den Ambulanten Hospizdienst, eine emotional doch sehr anstrengende und fordernde Aufgabe? Wer ist diese Margarete Keiser, langjährige ehrenamtliche Betriebsratsvorsitzende und Arbeitsrichterin und jetzt diejenige, die Sterbenskranken und ihren Angehörigen bis zuletzt zur Seite steht? Margarete Keiser ist als jüngste von vier Geschwis-tern als Beamtentochter in Schwarmstedt geboren. Hier habe sie eine glückliche Kindheit gehabt, erinnert sie sich. 1952 zog die Familie nach Hannover und es folgte eine nicht so gute Zeit aus Margarete Keisers Sicht. Das Geld war knapp, nach der Volksschule noch aufs Gymnasium zu gehen, das kam aus Kostengründen nicht in Frage. Schon auf der Volksschule sei sie wegen ihrer abgetragenen Sachen ausgelacht worden, aber anerkannt, weil sie anderen die Schularbeiten gemacht habe. Doch „Hannover hat unserer Familie nicht gut getan“, ist der Schluss, zu dem sie kommt. Sich einen Beruf aussuchen durfte sie nicht. Der Vater kümmerte sich, unterschrieb für seine Tochter einen Lehrvertrag im Einzelhandel beim damaligen Konsum. Da war Margarete Keiser 14 Jahre alt. „Man war damals schon froh, wenn man nicht in eine Fabrik musste“, sagt sie. Sie trat die Lehrstelle an und blieb nach dem Abschluss mit 17 Jahren dort. Doch der Verdienst war nicht besonders und so fuhr Margarete Keiser mit einigen Kolleginnen spontan in einer Mittagspause nach Laatzen zum damals kurz vor der Eröffnung stehenden ratio. „Wir wollten nur mal gucken“. Sie wurden auf der Stelle eingestellt und so wechselten drei Frauen zu ratio. Dort blieb sie bis 1967. 1964 lernte sie ihren Mann Dieter über Freunde kennen. Der verliebte sich Hals über Kopf in sie, 1965 wurde geheiratet. Das junge Paar wohnte zunächst in Linden, dort wurde auch ihr Sohn geboren. Dieter Keiser verpflichtete sich zunächst bei der Bundeswehr, eröffnete dann jedoch eine Gaststätte in Krähenwinkel, die das Ehepaar von 1971 bis 1973 bewirtschaftete. Als das Lokal lief, wollte der Hauswirt die Miete um 47 Prozent erhöhen – untragbar für die Pächter und sie beschlossen, noch einmal etwas anderes anzufangen.

Da sie in der Gaststätte in Krähenwinkel auch gewohnt hatten, brauchten sie eine Wohnung und eine, die ihr zusagte, entdeckte Margarete Keiser 1973 im ECHO. So kam die Familie in die Wedemark, genauer gesagt nach Bennemühlen, und nahm auch ihre Mutter bei sich auf, der Vater war zu dem Zeitpunkt schon einige Jahre tot.  Margarete Keiser fand einen Job bei Tengelmann in Langenhagen und wechselte mit dem Unternehmen in die Wedemark. Ihr Mann arbeitete zu dem Zeitpunkt bei der Berufsgenossenschaft. Ein ganz normales Leben – bis zu jenem Tag im Jahr 1984, als ihr einziger Sohn mit 18 Jahren mit dem Motorrad auf der Brücke über die Autobahn bei Berkhof tödlich verunglückte. Er hatte sich die schwere Maschine geliehen und die Gewalt darüber verloren. Das tragische Unglück stürzte Margarete und Dieter Keiser in eine tiefe Krise, an der auch ihre Beziehung fast zerbrochen wäre. „Ich hätte gerne über Ralf geredet, habe das erste Jahr gar nicht realisiert, dass er tot ist, mein Mann konnte gar nicht darüber reden“, erinnert sich die heute 75-Jährige. Die Freunde ihres Sohnes haben ihnen damals und bis heute sehr geholfen, den schweren Verlust zu ertragen. „Dass sie immer kamen und für uns da waren, wir einen Platz in ihrem Leben hatten, das hat uns beide gerettet“, sagt Margarete Keiser ernst. Das und ihr ehrenamtliches Engagement. Schon als Jugendliche hatte sie sich ehrenamtlich engagiert, mit 16 Jahren Jugendgruppen geleitet, sich von 1973 an bei der Gewerkschaft betätigt, im Betriebsrat gearbeitet und sich ganz stark auf Arbeitsrecht spezialisiert, was schließlich zur Berufung als Arbeitsrichterin bis hin zur Landesebene führte. 

„Ich helfe immer da, wo es keine Hilfe mehr gibt, ich bin die letzte Anlaufstelle“, bringt es Margarete Keiser auf den Punkt. Das gilt für das Arbeitsrecht ebenso wie heute für den Ambulanten Hospizdienst. Zwischendurch hat Keiser auch Politik für die SPD gemacht, ist aber ausgetreten, als Gerhard Schröder das Ladenschlussgesetz geändert hat, denn wenn sie was ist, dann konsequent. Für die Betriebsräte habe sie viel erreicht, viele Schulungen organisiert, so Keiser. Doch das reichte ihr noch nicht. Vor 18 Jahren wurde sie in den Elzer Kirchenvorstand gewählt. Sie hilft auch bei der Ausgabe der Tafel in Elze, ist aktiv im Besuchsdienstkreis der Kirchengemeinde, hat dort das Generationenessen „erfunden” und ist weiterhin maßgeblich dabei. Als Delegierte im Kirchenkreistag kam sie erstmals mit dem Ambulanten Hospizdienst in Kontakt. „Ich war sofort ganz fasziniert, aber mir war klar, solange ich arbeite, geht das nicht, denn was ich mache, mache ich ganz oder gar nicht“, betont Keiser. Als sie dann jedoch 2007 in den Ruhestand ging, hinderte eine eigene Krankheit sie daran, sofort loszulegen. Dann musste sie erst noch einen entsprechenden Lehrgang belegen, ein Praktikum absolvieren und dann konnte sie durchstarten. „Ich habe mich mit meiner neuen Aufgabe sofort wohl gefühlt, das war genau das, was ich brauchte. Wir alle dort hatten das gleiche Ziel, wir wollten bei den Menschen sein, die unsere Hilfe brauchen.“

Wenn sie zu der Familie fahre, die sie begleite, dann mache sie ihr Herz leer von privaten Sorgen. Entscheidend sei nicht die Krankheit an sich, sondern die Tatsache, dass der Betroffene nicht mehr viel Zeit habe. „Ich richte mich nur auf diesen Menschen und seine Angehörigen ein“, berichtet Keiser. Jeder Ehrenamtliche beim Hospizdienst hat zeitgleich immer nur eine Begleitung, manchmal über Wochen, ein anderes Mal über Monate, in einigen seltenen Fällen auch mal länger als ein Jahr. Margarete Keiser bekam ihre erste eigene Begleitung in Resse und musste dort nach ihrer theoretischen Schulung noch einmal viel Lebenspraxis lernen, nämlich dass es nicht ihre Aufgabe sein konnte, die häuslichen Probleme ihres Begleiteten zu lösen. Ute Rodehorst, ihre Chefin beim Ambulanten Hospizdienst, habe dann mit den Kindern gesprochen und für Klärung gesorgt. Margarete Keisers Aufgabe war es, in vielen anderen Dingen für ihre Begleitete da zu sein: „Ich habe mit ihr Rommee-Cup gespielt, ihr das Essen gekocht, dass sie sich gewünscht hat, das besondere Brot besorgt, das sie so gerne mochte und bin mit dem Hund gegangen“, erinnert sie sich an diese erste Begleitung. „Ich schreibe alles in mein Erinnerungsbuch, wenn die Begleitung zu Ende ist, diese Aufzeichnungen bekommt aber niemand zu sehen“, berichtet sie. Das seien ganz persönliche Eindrücke und Erfahrungen, wo ihr das Aufschreiben bei der Verarbeitung helfe. 

Ihr zweiter Fall war einer der seltenen, wo aus den zwei Monaten, die man einer krebskranken älteren Dame vorausgesagt hatte, noch zwei Jahre wurden. Am Anfang konnte die Patientin nur liegen, dann irgendwann wieder aufstehen und nach einer Physiotherapie sogar wieder ein bisschen gehen. Sie habe sogar selber wieder gelesen, nachdem Keiser ihr eine Geschichte aus einem Engelbuch vorgelesen und das Buch einmal liegen gelassen habe.  „Die Leute sagen schon, wenn ich komme, werden sie gesund“, freut sich Margarete Keiser. Doch ganz so einfach sei es leider nicht. In diesem Fall habe die Kranke eine sehr liebevolle Familie gehabt, die sie aufopfernd selbst gepflegt beziehungsweise in die Kurzzeitpflege gegeben habe. Wie oft der Ambulante Hospizdienst zu seinem Begleiteten komme, das werde ganz individuell nach Wunsch des Kranken und Stärke der Krankheit abgestimmt, betont sie. Eine so lange Begleitung über zwei Jahre wie in diesem Fall sei etwas ganz Besonderes. Da werde sie als Begleiterin zum Freundinersatz – eine Freundin, der man Sachen erzählt, die man den eigenen Kindern verschweige. „Ich habe ihr das Versprechen gegeben, dass sie nie ins Krankenhaus muss. Sie wollte zuhause sterben, hat mir gleich am ers-ten Tag ihre Patientenverfügung gezeigt“, erzählt Margarete Keiser. Der Wunsch sei erfüllt worden. Ganz friedlich sei die Bissendorferin im Alter von 83 Jahren gestorben. „Als die Tochter mich anrief, bin ich sofort hingefahren, wir haben die Tote gemeinsam gewaschen, ganz schicklich wie es sich gehört.“ Dass dies nicht zu ihren Aufgaben gehört, ist Margarete Keiser klar, doch je nach der Beziehung zu ihrem Begleiteten, definiert sie sich ihre Aufgaben eben auch manchmal selbst. „Es ist nicht festgeschrieben, wann eine Aufgabe zu Ende ist, das macht jeder bei uns beim Hospizdienst anders“, weiß sie. 

Und wie geht man mit der emotionalen Belastung um, wie hält man die so dringend notwenige Dis-tanz? „Man ist traurig, weil man einen Menschen verloren hat, den man schätzen gelernt hat. Aber man ist auch dankbar, dass dieser Mensch, den man schätzte, gehen konnte, ohne Schmerzen. „Wir kämpfen nicht gegen den Tod, sondern darum, dass das Hiersein schön ist. Die Menschen, die gehen, haben auch keine Angst vor dem Tod, sondern vor Schmerzen und Alleinsein“, sagt Margarete Keiser ernst. Dass sie für den Hospizdienst des Kirchenkreises im Einsatz ist, heißt übrigens nicht, dass sie  nur zu treuen Kirchgängern geht, oder Gott, Glaube und Kirche thematisiert. Wenn ihr Begleiteter das wünscht, spricht sie mit ihm auch über diese Dinge, doch manchmal ist dies auch überhaupt kein Thema. „Das einzige, was ich dazu sagen kann, ist die allgemeine Erfahrung von mir und meinen Kolleginnen, dass die Gläubigen leichter gehen“, sagt sie nachdenklich. Sie hat übrigens auch schon einen Lehrgang für Muslime mitgemacht und möchte dies auch noch einmal wiederholen. Margarete Keiser ist bereit, sich mit jeder Situation auseinanderzusetzen, der sie begegnet, nur eins schließt sie aus: sterbenskranke Kinder zu begleiten. „Das könnte ich nicht, da würde ich selber dran kaputt gehen“, weiß sie, wo ihre Grenzen sind, denn sie hat gerade einen Lehrgang mit diesem Titel gemacht: „Wo sind unsere Grenzen?“. 

Ansonsten bedeutet die Begleitung Sterbenskranker für sie, Wünsche zu erfüllen, wo das machbar ist, zu reden, wenn dies gewünscht ist und ebenso zu schweigen. „Wissen Sie, dass Sie die einzige sind, die auch dann bei mir bleibt, wenn ich nichts sage oder schlafe?“, hat ihr eine Begleitete einmal gesagt, die sie darum gebeten habe, einfach da zu sein und zu schweigen, weil sie dies als Wohltat empfinde. Der schönste Dank sei, wenn man dann mal einen Brief mit den Worten erhält: „Gut, dass es so selbstlose Menschen wie Sie gibt!“ Was Kranke und ihre Angehörigen bewegt, sich an den Ambulanten Hospizdienst zu wenden, und warum Margarete Keiser mit ihrer aktuellen Begleitfamilie Andres in Bissendorf auch ganz viel lacht, das erfahren Sie auf den nächsten Seiten!   

Margarete Keiser vom Ambulanten Hospizdienst des Kirchenkreises begleitet seit gut einem halben Jahr Werner Andres aus Bissendorf. Die Gespräche und manchmal auch nur eine Handmassage tun dem Kranken gut. Foto: A. Wiese

 

„Reden, Lachen und einfach da sein“

Der Ambulante Hospizdienst des Kirchenkreises hilft beim Leben, nicht beim Sterben

Bissendorf (awi). „Hospizdienst – das wird oft falsch verstanden. Wenn ich erzähle, dass Frau Keiser vom Ambulanten Hospizdienst zu meinem Mann kommt, fragen viele erschrocken: Ist es schon so weit?“, erzählt Bettina Andres (71). Doch Margarete Keiser kommt nicht zu Werner Andres, weil er im Sterben liegt, sondern um ihm das Leben schön zu machen und zu erleichtern, wo sie es kann. „Wir sind Frau Keiser dafür unglaublich dankbar. Seit sie kommt, ist mein Mann wieder viel fröhlicher geworden und in unserem Haus wird viel gelacht,“ so Bettina Andres. Seit drei Jahren muss Werner Andres, der in diesem Jahr 79 Jahre alt wird, regelmäßig zur Dialyse in die Klinik. Im letzten Jahr kam der Krebs dazu. Magenkrebs. „Die Diagnose bekamen wir vom Krankenhaus mal eben so auf einen Samstagabend am Telefon mitgeteilt“, sagt seine Frau. Im Juli letzten Jahres wurde der Magen entfernt. Mit der Kocherei sei es seitdem etwas schwieriger, meint Bettina Andres mit Galgenhumor. Bestimmte Dinge dürfe ihr Mann schon wegen der Nieren nicht essen, andere jetzt wegen des fehlenden Magens nicht. Dazu kommen die starken Medikamente. Dabei war Werner Andres sein Leben lang so fit und aktiv. „Texas haben sie ihn genannt, nach  irgendsoeiner Zigarettenwerbung“, schmunzelt sie. Sie hatte Probleme mit dem Laufen, für sie haben sie den Treppenlift einbauen lassen und das Haus behindertengerecht umgebaut. Jetzt ist die frühere Krankenschwester froh, dass es so ist, erleichtert es ihr die Pflege ihres schwerkranken Mannes doch erheblich. Im Wohnzimmer steht jetzt auch ein Pflegebett, so hat sie ihn den ganzen Tag in der Nähe. Denn Werner Andres liegt überwiegend, wenn er nicht zur Dialyse in der Klinik ist. Durch die Chemotherapie wird ihm leicht schwindelig und er hat eine Polyneuropathie bekommen. Die Nierenerkrankung hatte das Ehepaar als gegeben akzeptiert, die Dialyse als notwendiges Übel in ihr Leben integriert, dann kam jedoch die andere Keule dazu. Auf einmal hatte Werner Andres Blut im Urin, die Dialyse wurde informiert, drängte auf eine Untersuchung im Krankenhaus Siloah. Man vermutete ein geplatztes Geschwür. Donnerstag wurde er entlassen, Sonnabend kam der Anruf: Krebs. Es folgten Operationen und Chemotherapie.  Noch einmal mussten Bettina und Werner An-
dres ihr ganzes Leben umstellen. Zum Duschen kommt jetzt der Pflegedienst. Der organisierte auch eine Dame, die im Haushalt hilft. Für alles andere – das emotionale Netzwerk – sorgen die Tochter, die aus England in kürzester Zeit einfliegt, wenn sie gebraucht wird, ein „tolles Netzwerk an Nachbarn, Bekannten und Freunden“ und Margarete Keiser natürlich. Kurz vor Weihnachten hatte der Pflegedienst angeregt, sich mit dem Ambulanten Hospizdienst in Verbindung zu setzen, um Hilfe und Begleitung zu bekommen, einfach noch einen Menschen zu haben, der uneingeschränkt für einen da ist. „Ich habe so gedacht: Das ist doch toll  für meinen Mann, wenn er jemanden hat, mit dem er über Dinge reden möchte, die er mit mir vielleicht nicht besprechen kann“, erzählt Bettina Andres nachdenklich. Margarete Keiser hat Schweigepflicht. Nie wird jemand von ihr erfahren, was Werner Andres ihr anvertraut. Der hat übrigens Galgenhumor, meint: „Ein bisschen bleibe ich noch, meine Nachbarn ärgern!“ An sich hat Bettina Andres nicht gedacht, als sie mit dem Hospizdienst Kontakt aufgenommen hat. „Sollten Sie aber mal“, sagt Margarete Keiser ernst zu ihr, während sie Werner Andres die Hand massiert, die heute etwas dick und geschwollen ist. „Seit Sie da sind, geht es mir aber schon viel besser“, versichert ihr die Ehefrau des Schwerkranken. Bevor Keiser gekommen sei, habe sie nur noch funktioniert, sei wie gelähmt gewesen. Keiser habe sie da rausgeholt. Jetzt mache ihr auch das Handarbeiten wieder Spaß. Margarete Keiser kommt in der Regel einmal die Woche nach Bissendorf zu Werner Andres, auf Wunsch auch öfter, im Notfall auch jederzeit. Das hat Vertrauen aufgebaut. Sie sei aufgefangen worden, sagt Bettina Andres. Man wisse ja nicht, was auf einen zukomme. Ihr Mann sei übrigens am Anfang eher ablehnend gewesen. Er brauche keine Begleitung, habe er gesagt. „Vielleicht hast du was zu sagen“, habe sie dagegen gehalten. Der Maurergeselle, der sein Haus selbst gebaut und sein Leben lang viel gearbeitet hat, bis er aus gesundheitlichen Gründen Frührente beantragen musste, hat schließlich  nur mit den Schultern gezuckt. Margarete Keiser mit ihrer ruhigen und doch so lebensfrohen und praktischen Art fand jedoch schnell einen Draht zu ihm und zu seiner Frau. Die hat inzwischen ihren Optimismus wiederbelebt. „Mein Mann hatte doch vor Jahren so schlimm Meningitis und Enzephalitis. Sechs Jahre hat es gedauert, bis er wieder normal war. Das haben wir geschafft, dann packen wir das hier auch. Wir schaffen alles. Wir lieben uns doch“, sagt die 71-Jährige. Ihr ist sehr wichtig, dass öffentlich bekannt wird, was für wichtige Arbeit die Ehrenamtlichen vom Ambulanten Hospizdienst leisten, merkt sie doch selbst im Bekanntenkreis immer wieder, wie wenig darüber bekannt ist. Und sie hat gemerkt, auch eine eigentlich sehr gute Beziehung – die Andres sind dieses Jahr 40 Jahre verheiratet – kommt an ihre Grenzen bei der Belastung, die eine so schwere Erkrankung mit sich bringt. Da tut ein wenig Unterstützung von außen sehr sehr gut. 

Werner Andres ist als Kind mit seiner Oma aus Ostpreußen in die Wedemark gekommen. Bettina Andres zog 1972 hierher. Sie stammt ursprünglich aus Dresden. Ihren Mann hat sie 1976 auf dem Fußballplatz am Natelsheidesee kennengelernt. Die angenommene Tochter ist für beide wie ein leibliches Kind. Werner Andres hat das Gespräch von seinem Bett im Wohnzimmer aus verfolgt, ärgert sich aber, dass er nicht alles versteht. „Ich muss mein Hörgerät wieder in Gang bringen“, meint der blasse Mann in den Kissen, der zwar schwach wirkt, aber durch seinen wachen Blick fasziniert. Er lacht über einen Scherz von Margarete Keiser, erzählt mit ihr von früher. Sie hört zu, fragt ab und zu interessiert nach. „Die Gespräche mit Frau Keiser beruhigen meinen Mann, sie gibt ihm Vertrauen, das spüre ich“, sagt Bettina Andres zufrieden und lehnt sich aufatmend in ihrem Sessel zurück. Wenn die Helferin vom Hospizdienst da ist, kann sie ein wenig loslassen, ein bisschen von der drückenden Verantwortung abgeben, muss nicht wie sonst Tag und Nacht auf höchs-ter Alarmstufe sein. Gemeinsam reden Werner und Bettina Andres mit Margarete Keiser auch darüber, dass eine Heilung nicht möglich ist, das Unabänderliche irgendwann kommen wird. Als Krankenschwester ist Bettina Andres das Thema nicht fremd, die persönliche Betroffenheit verändert jedoch die Wahrnehmung. Doch sie weiß: Es gibt klar erkennbare Zeichen, wenn jemand gehen will. Es ist ganz wichtig, dass die nächsten Angehörigen ihm dann signalisieren: Ja, du darfst in Ruhe gehen, es ist alles erledigt. „Wir hängen sehr aneinander. Die 40 Jahre haben uns zusammengeschweißt“, sagt Bettina Andres nachdenklich. Darüber nachdenken, wie es ohne ihren Mann sein wird, das möchte sie im Moment noch nicht. Sie genießt jede Minute mit ihm, ist froh, dass das zweite Pflegebett jetzt im Wohnzimmer steht und sie ihn den ganzen Tag um sich hat. Wenn drei Monate Chemotherapie um sind, steht die nächste Untersuchung an, dann wird sich rausstellen, ob und wieviel die Therapie gebracht hat. 17 Lymphen wurden entfernt. Der Krebs könnte streuen, schließlich ist Werner Andres schwer angeschlagen, hat auch noch Blutkrebs. Pflegestufe fünf ist ihm mittlerweile nach der Magenentfernung zuerkannt worden vom medizinischen Dienst. Bettina Andres bekommt wegen chronischer Rückenschmerzen Morphine, hat selbst Pflegestufe zwei. Wenn man weiß, was beide an Päckchen zu tragen haben, wundert man sich eigentlich noch mehr über die heitere und gelöste Stimmung in diesem Haus, zu der Margarete Keiser mit ihrem selbstlosen Wirken allerdings sehr viel beiträgt. „Viele können über ihre Probleme, Ängste und Schmerzen nicht mal sprechen. Wir können gemeinsam sogar lachen, vielleicht ist das das Geheimnis“, meint Bettina Andres und schaut ihren schwerkranken Mann liebevoll an. Und da kommt er einem wieder ins Gedächtnis, der Spruch, der früher in vielen Poesiealben stand und für die Kinder von damals noch so gar keine Bedeutung hatte: „Das sind die Starken im Leben, die unter Tränen lachen, ihr eigenes Leid verbergen und andere glücklich machen!“ Er hat nie aufgehört, der Schmerz in Margarete Keiser über den frühen Unfalltod des eigenen Sohnes, aber es gelingt ihr, negative in positive Energie zu wandeln und aus dem Schmerz Kraft zu ziehen, die sie an andere weitergibt. Die Ehrennadel der Gemeinde Wedemark ist als Anerkennung dafür eigentlich viel zu wenig.

Nachtrag: Nach dem Besuch der Redakteurin bis zum Erscheinen dieses Artikels hat sich die Situation bei Familie Andres dramatisch zugespitzt. Am 30. April ist Werner Andres direkt von der Dialyse ins Krankenhaus eingeliefert worden. „Ich fuhr Frau Andres und ihre Tochter ins Siloah, wir alle befürchteten, dass wir uns nur noch von ihm verabschieden konnten. Doch zum Glück war er klar bei Bewusstsein, freute sich sehr uns zu sehen und hat mit uns gesprochen. Die Diagnose lautete schwere Lungenentzündung. Inzwischen geht es ihm besser und wir rechnen mit seiner baldigen Genesung von dieser Krankheit“, berichtet Margarete Keiser freudestrahlend.

Quelle: Wedemark ECHO / Senioren ECHO vom 16.05.2018 

 

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